„Kultur des Hinschauens“
Sexuelle Übergriffe in einer Partei, die sich gegen Sexismus einsetzt. Die für Geschlechtergerechtigkeit wirbt und für sexuelle Selbstbestimmung? Das geht. Wir sind ja alle nur Menschen.
Ein Kommentar | 21.04.2022 | Franziska Helm
In dem Artikel vom 21. April 2022 wird der aktuellen Bundesvorsitzenden Janine Wissler ein Verschulden an den sexuellen Übergriffen abgesprochen. Scheint logisch, es sei denn sie selbst war beteiligt. Logisch wäre es auch, wenn sie von diesen Übergriffen nichts gewusst hätte. Das Problem, was in der Partei intern grassiert, soll es jahrelang gegeben haben. Sarah Dubiel von der Linksjugend macht in einem Interview mit der Zeit deutlich, welche Ausmaße die Übergriffe in der Partei hatten. Probleme in einer Partei, die sich „sexuelle Selbstbestimmung“ auf die Fahnen schreibt.
Mit diesem Hintergrund scheint es unwahrscheinlich, das niemandniemand - auch Wissler - davon wusste. Und richtig. Laut Recherchen des Spiegels wird deutlich, dass Zweifel an den Aussagen und den Stellungnahmen seitens Der Linken zu den Vorwürfen berechtigt sind. In der dem Spiegel vorliegenden EMail vom 16. März 2022 wird auf Vorfälle hingewiesen, die bereits 2018 stattgefunden haben sollen. Auch wird erwähnt, dass sie nicht lokal oder einmalig waren. Noch ein Saatkorn, das Zweifel an der Ernsthaftigkeit der Aussagen sät.
Das Argument, das Wissler zum Zeitpunkt der bekannt gewordenen Vorfälle „nur“ Fraktionsvorsitzende war, bedeutet nicht, die Augen zu verschließen. Gerade als Fraktionsvorsitzende wäre sie des Handelns fähig. Sicherlich trägt sie nicht die alleinige Schuld, aber wie ihre Genoss*innen eine Mitschuld. Spätestens seit den Ereignissen in Köln 2016 und den folgenden Debatten hätten die eigenen Reihen sich selbst reflektieren können. #MeeToo hatte die Problematiken in dieser Gesellschaft noch verdeutlicht. Auch die Umfrage zur sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz war ein guter Anlass sich mit dem Thema zu befassen. Dass es nicht nur immer die anderen sind. Jeder Landesverband hat eigene Gleichstellungsbeauftragte, die eigentlich eine gewisse Sensibilität für solche Themen haben sollten.
In dem Artikel heißt es weiter, es fehle an einer „Kultur des Hinschauens“. Ein gravierender Missstand sei es, dass es bisher keine Strukturen gebe, an die sich Betroffene wenden könnten. Weiter heißt es: „ob antisexistische Schulungen verpflichtend für Funktionäre werden sollten.“ Zum Verständnis: Personen, die dieses Amt bekleiden, handeln im Auftrag und im Interesse ihrer Organisation. Eigentlich bräuchte es diese Kultur und Strukturen nicht. Aber eine feministische Partei wie Die Linke wird von Menschen geführt die Politik machen. Menschen sind eben doch nur Menschen. Sie machen Fehler. Ist das eine Entschuldigung? Nein. Eine Erklärung.